Weihnachtsferien im Internat – in Erich Kästners „fliegendem Klassenzimmer“ droht dieses Schicksal einem Schüler, dessen Eltern beruflich im Ausland festhängen; in letzter Minute darf er aber doch mit zur Familie eines Freundes. Weihnachten in einer lieben Familie – alles wird gut, alles, wie es sein soll, kein Auge bleibt trocken bei diesem rührenden Ende! Für die chinesischen Internatsschüler in Michelbach ist es in Zeiten von Corona nun fast genauso schwierig, Zugang zu anderen „Haushalten“ zu bekommen, wie Fernreisen zu unternehmen. Einige von ihnen verbringen deshalb die gesamten Weihnachtsferien im Internat.
Derzeit leben im Internat des Ev. Schulzentrums Michelbach fünfzehn Schülerinnen und Schüler aus China. Nicht für alle von ihnen war es möglich, die Heimreise über die Weihnachtsferien zu organisieren und so sind Zirui (Klasse 13), Yuchen, Muyuan und Yijie (alle drei Klasse 11) auch über die Feiertage im Schloss geblieben.
Besonders traurig sind sie darüber aber gar nicht. Die drei Jungen aus der elften Klasse sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland und vermissen ihre Familien noch nicht allzu sehr. Über eine Chat-App und Videotelefonate halten sie engen Kontakt zu ihren Lieben. Zirui ist bereits seit drei Jahren hier. Sie nutzt die Zeit, um sich auf die anstehenden Abiturprüfungen vorzubereiten.
Zuhause in China, sagen die vier, sei Weihnachten ohnehin kein Fest, das groß gefeiert werde. In ihren Familien mache man sich höchstens kleine Geschenke oder verbringe einen gemütlichen Abend zusammen. Den Status, den hier die Weihnachtstage haben, nehme in China das Neujahrsfest am 12. Februar ein. Auch das werden die Jugendlichen in diesem Jahr hier verbringen. Möglicherweise kann dann im Internat schon wieder ein bisschen mit den Mitschülerinnen und Mitschülern gefeiert werden.
Über die Feiertage und die weitere Ferienzeit wollen sie es sich auch im Internat gemütlich machen. Sie spielen zusammen Basketball, oder Karten, “zocken” Computerspiele, lernen zusammen Deutsch oder hören und machen Musik. Nach einem Großeinkauf am Tag vor Heiligabend steht einem guten selbstgekochten Abendessen nichts mehr im Wege. An traditioneller deutscher Weihnachtsküche wollen sie sich aber nicht versuchen und lieber chinesische Gerichte auf den Tisch bringen. Überhaupt, sagen die Jungen, die erst seit kurzem hier sind, sei das Essen anfangs die größte Schwierigkeit am Leben in Deutschland: Während sie sich etwa an die völlig andere Art des Unterrichts mit Diskussionen und deutlich weniger strengen Methoden als in der Heimat, schnell gewöhnt haben, schütteln sie sich immer noch (nicht nur) vor Lachen, wenn sie an Gerichte wie Maultaschen mit Kartoffelsalat denken, die ihnen hier in der Mensa zum ersten Mal begegnet sind. Das gehe noch gar nicht, lacht Yuchen.
Die Sprache sei natürlich auch schwierig, in China haben sie ein Jahr Deutsch gelernt, bevor sie hierher kamen, deshalb verwundert es nicht, dass alle vier die Naturwissenschaften, Mathe, Physik und Chemie, als ihre Lieblingsfächer angeben und dort auch sehr gute Leistungen zeigen. Die zeichnerisch begabte Zirui liebt zudem Kunst. Durch den Deutschunterricht dagegen, der natürlich völlig anders ist als in China, “müssen wir halt durch”.
Das Ferienleben gleicht einer kleinen WG in großen Gebäuden, wobei sie über die Ferien alle im Bauernhaus, einem Wohngebäude des Internats, untergekommen sind. Ansonsten wohnen die jüngeren Schüler im Schulgebäude. Täglich schaut eine Lehrkraft nach dem Rechten und ist ansonsten über ein Bereitschaftshandy erreichbar, sodass die vier nicht ganz auf sich allein gestellt sind.
Nach ihren Wünschen und Hoffnungen für’s neue Jahr gefragt, antworten die vier, dass sie sich freuen, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bald wieder zu sehen und darauf, das Internatsleben in absehbarer Zeit ohne Pandemiebedingungen, mit Freizeitaktivitäten ohne Abstand, mit Ausflügen, Besuchern und Barabenden kennenzulernen bzw. wiederzuerleben. Damit dürften sie nicht allein stehen.